Als ich Mama kennenlernte, war sie ein kleines Mädchen von ungefähr drei Jahren. Sie lebte mit ihren Eltern und ihrer Großmutter in einem Zimmer in Dakar, unweit der Schule Les Petits Génies. Ihr Vater arbeitete als Schneider in einer kleinen Nähwerkstatt, die Mutter war Hausfrau. Die Großmutter kümmerte sich um die kleine Mama und half im Haushalt, so gut sie konnte. Senegalesische Frauen waschen ihre Wäsche an einem Waschplatz mit anderen Frauen, mehrere Frauen teilen sich eine Gemeinschaftsküche. Auch die Toilette wird von allen Bewohnern des Hauses benutzt.
Mamas Familie war immer fröhlich, ihr Vater sprach etwas Französisch, wir verstanden uns gut. Mama bekam noch ein kleines Schwesterchen, die Familie war sehr glücklich.
2020 begann die Pandemie. Der senegalesische Präsident Macky Sall ließ die Geschäfte, die Märkte (auf denen sich das gesellschaftliche Leben abspielt und alle Einkäufe getätigt werden), die Restaurants, die Musikclubs schließen. Die jungen Leute rebellierten und lieferten sich immer wieder schwere Straßenschlachten mit der Polizei und dem Militär. Viele Menschen wurden inhaftiert und sitzen z.T. bis heute ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis.
Auch Mamas Familie litt unter den Maßnahmen Salls, verlor aber den Mut nicht. Der Vater schneiderte, die Mutter versuchte etwas dazuzuverdienen, indem sie in anderen Haushalten mithalf. Die Großmutter kümmerte sich um die beiden Mädchen.
Mamas Omas litt bereits unter Diabetes, wie sehr viele Afrikaner. Diese Form von Diabetes ist eine Folge der jahrzehntelangen Mangelernährung, die vorwiegend aus Reis, Zucker und Milchpulver besteht.
Letztes Jahr erfuhr Mincady bei einem seiner Besuche, dass es Mamas Oma sehr schlecht ging. Sie hatte eine offene, schwärende Wunde am Arm. Wir beschlossen gemeinsam mit Mamas Patin, die ärztliche Ves der Großmutter zu bezahlen. Die Großmütter sind nicht nur im Senegal, sondern im ganzen schwarzafrikanischen Raum sehr wichtig für das Überleben der Kinder. Sie kümmern sich um die Enkel, wenn die Eltern darum kämpfen, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen.
Im Zuge der Behandlung heilte die Wunde wieder ab. Vor nicht allzu langer Zeit teilte mir Mincady mit, dass der Vater nach Marokko gegangen ist und seine Familie in Dakar zurückgelassen hat.
Warum Marokko, fragte ich ihn? Nach Marokko gehen verzweifelte Senegalesen in der Hoffnung, dort Geld verdienen zu können. Viele stranden dort und finden keine Arbeit. In ihr Heimatland können sie auch nicht zurückkehren, die Scham ist zu groß. In den Augen der senegalesischen Familie sind sie Gescheiterte, Männer, die nicht in der Lage sind, ihre Familie zu ernähren. Mincady wagt nicht, Mamas Mutter bei seinen wöchentlichen Besuchen zu fragen, ob sie etwas vom Vater gehört haben.
Mamas Mutter versucht nun, alleine die kleine Familie zu ernähren und muss der Großmutter (sie ist die Mutter von Mamas Vater) über den Verlust des Sohnes hinweghelfen und den Kindern Vater und Mutter zugleich sein. Ich frage mich oft, wie man soviel Leid ertragen kann.
Letzte Woche streikten die Lehrer der öffentlichen Schulen, weil die Regierung ihnen wieder einmal kein Gehalt ausbezahlt hat. Dafür hat Macky Sall am 27. Dezember die neue Zuglinie von Dakar zum Flughafen eingeweiht. Der Train Express wurde von den französischen Unternehmen Engie und Thales Group gebaut, das Auftragsvolumen beträgt 2 Milliarden Euro. Die Anrainer haben lange gegen den Bau protestiert, ihre Grundstücke wurden enteignet. Macky Salls Prestigeprojekt sollte nicht scheitern. Ob Mamas Familie jemals diesen Zug zum Flughafen benützen wird?
Gestern erreichte mich die Nachricht, dass die jungen Leute sich wieder Straßenschlachten in Dakar liefern. Derzeit läuft die Einschreibung für die Kommunalwahlen, die bald stattfinden. Mackys Gegner möchten um jeden Preis verhindern, dass seine Partei diese gewinnt. Sie sind frustriert, weil sie auch mit einem Hochschulabschluss keine Arbeit finden, weil sie chancenlos sind und ihr Leben nicht gestalten können.
Selbst der Traum, nach Europa zu gehen, wird eine Illusion bleiben. Europa hat sich im Zuge der Pandemie noch weiter abgeschottet. Angela Merkel hat am Ende ihrer Amtszeit mit Macky Sall noch ein Rückführungsabkommen abgeschlossen. Macky hat Soldaten nach Deutschland geschickt, die Asylbewerber (die sich als politisch Verfolgte ausgeben) als Senegalesen identifiziert und in ihr Heimatland zurückschickt. Die Bundesrepublik Deutschland gibt den Rückkehrwilligen dem Vernehmen nach Prämien, die aber leider nicht bei den Rückkehrern, sondern bei korrupten Regierungsmitgliedern landen.
Ugur Sahin hat versprochen, in Afrika drei Fabriken für die Produktion des ersehnten Impfstoffs errichten zu lassen. Dakar soll auch ein Werk bekommen. Ob die Produktion reicht, um die Omykron-Variante, die in Senegal um sich greift und allein in Dakar mehrere Menschen am Tag tötet, in den Griff zu bekommen?
Mincady kann nicht verstehen, warum Leute hierzulande auf die Straße gehen, weil sie sich nicht impfen lassen wollen. Der Blick nach Afrika oder besser noch der Blick aus Afrika schärft die Sichtweise auf unseren Eurozentrismus. Leider kann ich weiterhin nicht nach Dakar reisen. Mincady wird die Geschäfte auf unabsehbare Zeit alleine führen müssen. Wir können ihn nur mit einer guten finanziellen Ausstattung unterstützen, damit er seine wertvolle Arbeit machen kann.
Vielen Dank für alles, was Sie für Malika Vision e.V. tun.
Herzliche Grüße
Sabine Leibl